Sehnsucht nach der Familie
Endlich können meine Kollegin Silvia und ich wieder in die Betriebe gehen, unser erster Weg führt zu einer Werkstatt. Die Mitarbeiter dort sind uns ein besonderes Anliegen, denn kurz vor der Covid19-Krise ist ein Kollege von ihnen auf tragische Weise verunfallt. Vor uns sehen wir einen Arbeiter in die Halle huschen. Kein Mundschutz – und so lassen auch wir unseren in den Taschen stecken. Drinnen gehen wir an der Mauer entlang, biegen nach zehn Schritten um die Ecke und da begrüßen uns die freudigen Gesichter von Gerry und Szymon. Mitten in der Werkshalle entwickeln sich intensive Gespräche.
Szymon, der sympathische 35jährige, beginnt zu erzählen: "Letzte Woche waren Peter und ich am Grab. Es ist nach wie vor sehr traurig. Aber es tut nicht mehr ganz so weh, ich muss nicht mehr so viel an den Unfall denken." Einerseits sind seither schon einige Wochen vergangen, andererseits hat sich auch für die Arbeiter etliches verändert. Unser Blick schweift durch die sonst so geschäftige Halle. "Wenig Arbeit", kommentiert Szymon, "wir haben Kurzarbeit und viele sind Zuhause." Sein Zuhause aber ist weit weg. Es liegt im südlichen Polen.
Wehmütig erzählt er, dass er nun schon drei Wochen nicht mehr daheim war. Man merkt, dass ihm dies sehr schwer fällt. Dann fangen seine Augen an zu leuchten, als er von seiner Familie erzählt, von seinen beiden Söhnen, die jetzt im Mai Geburtstag haben. Einer wird dreizehn und einer sieben. „Aber das Nächste wird ein Mädchen“, lächelt er verträumt. Seine Frau ist im vierten Monat schwanger. Eigentlich fährt er jedes Wochenende heim zu seiner Familie. Jetzt sitzt er schon drei Wochen in Österreich fest. Tschechien hat die Grenzen dichtgemacht, so muss er einen Umweg von 500 km über Deutschland fahren. Das ist aber nicht das Problem. Das Problem ist die zweiwöchige Quarantäne, unter die er und seine Familie gestellt werden, wenn er nach Hause fährt. Polen hat zwar ein Abkommen mit Deutschland, das Pendlern eine Einreise ohne Quarantäne ermöglicht, aber nicht mit Österreich. "Das soll einer verstehen", sagt er kopfschüttelnd. Ein wenig tröstet er sich mit dem Gedanken, dass er in einer guten Firma arbeitet, denn er hat noch Arbeit. Zwei Pendlerkollegen in einer anderen Firma am Standort sind gleich zu Beginn der Krise entlassen worden. Einer hätte nur noch zwei Jahre bis zur Pension gehabt. "Da hätte sich doch irgendeine Arbeit in der Firma für diese zwei Jahre finden müssen", meint Szymon. "Mit seinem Alter wird er so schnell keine Arbeit finden – vor allem jetzt nicht." schätzt er die Lage ein. Und auch von der Situation in Polen hat er nichts Gutes zu berichten. Zahlreiche kleine Firmen haben zugesperrt und es gibt viele Arbeitslose. Vor drei Tagen hat sein Cousin angerufen, ob er Arbeit für ihn wisse. Gerne hätte er ihm geholfen, vor allem auch, weil der Cousin einen Kredit fürs Haus über 600 Euro laufen hat, aber nur 300 Euro Arbeitslose bekommt. "Aber was soll ich machen – hier gibt es ja auch nicht viel Arbeit.“
Ein Lichtblick sind die kommenden zwei Wochen. Szymon hat wegen der Kurzarbeit genug Stunden für diesen Monat beisammen. Er wird trotz drohender Quarantäne nach Hause fahren. Bei diesem Ausblick merkt man, wie ihm das Herz aufgeht. Dann kann er die Geburtstage seiner Söhne mitfeiern und ein kleines Stück weit die Schwangerschaft seiner Frau miterleben.