Solidarität (be)leben
Seit dem 19. Jahrhundert gehört gesellschaftliche Solidarität zum Vokabular der Kirche und der aufkommende ArbeitnehmerInnenbewegungen. Die Soziallehre und das II. Vat. Konzil stellten die sozialen Fragen der Zeit in den Mittelpunkt, zeitgleich organisierten sich die ArbeitnehmerInnen und beteiligten sich wesentlich beim Aufbau des Sozialstaats. Solidarität ist nicht nur Gemeinschaft schaffen, darüber waren sich AK-Präsident und Bischof einig, es geht auch darum, bewusst und aktiv Ausschau nach den Schwächeren zu halten, um sie dann wieder ins gemeinsame Boot zu holen.
„Würde es uns in den Sinn kommen, einen Fünfjährigen einen 50 kg schweren Zementsack tragen zu lassen? Oder würden wir das Gleiche verlangen von einem 70jährigen?“, fragte Johann Kalliauer. Wir sollten die Lasten verteilen auf den Schultern jener, die sie tragen können. Solidarität heißt Steuergerechtigkeit und Umverteilung. „Wir kennen die Geschichte des barmherzigen Samariters“, legte Manfred Scheuer nach. Ein Mann liegt im Elend am Rande des Weges. Wenn ihm keine hilft, stirbt er. Solidarität heißt da ohne Kalkül oder Tausch-Logik sofortige und unmittelbare Hilfe leisten, da muss man nicht nachdenken, ob das Helfen politische oder ökonomische Konsequenzen hat. Natürlich muss man die Frage nach dem gesetzlichen Rahmen der Solidarität irgendwann stellen und beantworten, aber im zwischenmenschlichen solidarischen Handeln ist dies nicht vorrangig.
Gibt es einen Verlust an Solidarität?
Sind wir mit-/untereinander unsolidarischer geworden? Diese Frage erfordert eine genauere Definition von Solidarität und wurde auch von den beiden Referenten unterschiedlich beantwortet. „Ich bin mir nicht so sicher, dass es weniger Solidarität gibt als früher“, meinte Bischof Scheuer, „ich sehe bei jüngeren Generationen große Bereitschaft zu helfen.“ „Man kann nicht leugnen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst und dass es da Maßnahmen braucht“, erwidert KA-Präsident Kalliauer. „Bei der Diskussion über die Mindestsicherung hat die Apathie vieler gezeigt, was für ein großes Problem wir mit solidarischem Auftreten haben. Von bedarfsorientierter Mindestsicherung ist schon lang nicht mehr die Rede.“ Bei Solidarität geht es nicht nur um materielle Absicherung, es geht auch um Chancengleichheit, Teilhabe und das dazugehörige Selbstwertgefühl. Bildung und gute Arbeit sind da wichtige Hebel. Auch die Fragen und Rückmeldungen des Publikums bezogen sich oft auf diese beiden Themen.
Durch die Finanzkrise und die ungerechte Verteilung des Reichtums, fühlten sich viele auf der Verliererseite, meinte der AK-Präsident. Wenn es anderen noch schlechter gehe als uns selbst, sei es offenbar leichter, dieses Gefühl zu ertragen. Dieses Phänomen erkläre teilweise die Zunahme der Fremdenfeindlichkeit und die Härte der Mindestsicherungsdebatte. Es sei schade, dass wir Sozialhilfe nach unten „korrigieren“, um den Unterschied zwischen arbeiten und nicht-arbeiten deutlich zu machen, anstatt gemeinsam für einen höheren Mindestlohn zu kämpfen. Gut bezahlte Arbeit, eigentlich: gerecht entlohnte Arbeit, und Arbeit, bei der man Wertschätzung spürt, sind notwendig für eine positive Grundstimmung in der Bevölkerung.
Das solidarische Handeln der Menschen sei nicht nur abhängig von den eigenen materiellen Ressourcen, antwortete der Bischof. „Ich habe oft genug erlebt, dass manche, die wirklich wenig haben, empathischer agieren und eine größere Bereitschaft zum Teilen zeigen. Auch in dieser Hinsicht ist die Bandbreite und Diversität der Menschen groß.“
Trotz Analysen und pointierter Beispiele blieb die wichtigste Frage des Abends lange unbeantwortet: Wie schaffen wir es wirklich, den Grundspiegel der Solidarität in Oberösterreich zu heben?
Handlungsmöglichkeiten
Dr. Kalliauer nahm die Metapher des Grundwassers her, um seinen Ansatz zu erläutern: Es gibt zwei Möglichkeiten den Spiegel zu heben. Einerseits nachzuschütten, anderseits zu schauen, wieso das Wasser wegsickert. Manche Ursachen für das Verschwinden von Solidarität befinden sich außerhalb unseres Einflussbereichs, aber trotzdem sind wir Akteure in der Gestaltung unserer Gesellschaft. Wir wollen Steuergerechtigkeit, Mindestlöhne, flächendeckende Kollektivvertragsverhandlungen, Umverteilung von Arbeit und eine Stärkung des Sozialstaats. „Ich glaube nach wie vor an persönliche Gespräche, um gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Leider werden wegen der Arbeitsverdichtung informelle Gespräche zwischen MitarbeiterInnen weniger“. Auch aus den sozialen Medien sollen wir uns nicht zurückziehen und gegen Hassparolen und für solidarisches Handeln argumentieren. Dr. Scheuer setzt auf Bewusstseinsbildung und auf organisierte Hilfe. Er hält auch viel vom Setzen sozialer und ökologischer Standards für Unternehmen (CSR), um die Wirtschaft solidarisch zu gestalten – inklusive Sanktionen und Anreize.
Solidarität (be)leben, da gibt es keine einfache Rezepten, die sofort Ergebnisse garantieren, so lautete das Resümee des Abends. Man soll das große Wort Solidarität im Alltag buchstabieren und von seiner Patina befreien. Es gibt nicht die allumfassenden Maßnahmen oder Handlungen, die alle Probleme lösen und alle Beteiligten zufrieden zurück lassen. Es lohnt sich aber, das Gemeinsame zu suchen und die Schwächeren nicht außer Acht zu lassen, ob durch individuelles Handeln oder eine gerecht organisierte Gesellschaft.
Stefan Robbrecht-Roller