Sozialstammtisch mit Friedhelm Hengsbach SJ
Friedhelm Hengsbach ist führender Sozialethiker und Ökonom im deutschsprachigen Raum. Er entlarvt wirtschaftsliberale Zukunftsvisionen zur Wertsteigerung des Arbeitsvermögens als trügerische Verheißungen, als „Drogen“, mittels denen die wirklich notwendigen wirtschaftspolitischen Veränderungen verschleiert werden.
Theorien als nicht haltbar eingeschätzt
Im Zentrum seiner Kritik steht die Theorie von Daniel Cohen – die „Erzählung“ wie Hengsbach sie nennt – welche davon ausgeht, dass die europäische Gesellschaft am Wechsel zum Zeitalter des Arbeitsvermögens steht. Cohen geht davon aus, dass der Wert der Arbeit in Zukunft steigen wird und die Beschäftigten selbst es sind, die diese Veränderungen bewirken. Denn diese seien selbstbewusste Menschen, sie haben in der Familie und in der Schule positive Erfahrungen mit der Demokratie als Lebensform gewonnen. Als „Arbeitskraftunternehmer“ beanspruchen sie mehr Autonomie bei der Gestaltung ihrer Arbeit und Arbeitszeit. Diese Trends würden eine Humanisierung der Arbeit, eine Zunahme der Arbeit an den Menschen und eine Aufwertung dieser Arbeit bewirken. Die Unternehmen seien also gezwungen, diesen Erwartungen gerecht zu werden und somit den Wert des Arbeitsvermögens höher einzuschätzen.
Dass diese Theorie nicht hält, was sie versprechen will, entlarvt Hengsbach anhand mehrerer Punkte, mittels denen er den „Drogencharakter“ der Cohen-Theorie hervorhebt. So sieht er die Fixierung auf die Erwerbsarbeit, die Wachstumsdynamik der kapitalistischen Wirtschaft, die zunehmende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und die steigende Entregelung der Arbeitsverhältnisse als Tendenzen, die der Wertsteigerung des Arbeitsvermögens diametral entgegenstehen. Auch die Idee, dass vor allem hochgebildete Menschen als quasi selbstständige „Arbeitskraftunternehmer“ von den Freiheiten und Möglichkeiten der vermeintlich flachen Hierachien der Unternehmen profitieren können, führe in die Irre. Diese Entwicklung führt vielmehr dazu, dass diese sich bis zur Erschöpfung selbst ausbeuten, was anhand der zunehmenden Burn-Out – Rate von hochqualifizierten Arbeitnehmern ablesbar ist.
Kritisch sieht er auch die Entwicklung unserer „Wissensgesellschaft“, denn Wissen ist nicht gleich Bildung. Bildung basiert auf der Bildung des ganzen Menschen, Wissen als Ansammlung von Daten hauptsächlich naturwissenschaftlicher Dimension erfasst den realen Menschen nicht. Dass die in Wirtschaft und Gesellschaft zunehmende digitale Vernetzung nicht zur vermeintlichen Verbesserung oder Erleichterung führt, lässt sich anhand der letztens häufiger vorkommenden Hackerangriffen ablesen, die zeigen, wie fehleranfällig diese Vernetzung ist.
All diese Punkte würden vielmehr zeigen, wie dringend eine grundlegende Veränderung unserer Realität und unserer Arbeitswelt notwendig ist.
"Gezeitenwechsel"
Der „Gezeitenwechsel“, den Hengsbach nun sieht, ist an mehreren Stellen erkennbar. Zum einem sieht er den zunehmenden Zulauf und Einfluss der Gewerkschaften, zum anderen sticht auch Papst Franziskus mit seiner Analyse im apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ hervor. „Diese Wirtschaft tötet“ schreibt Papst Franziskus und weist damit auf die abertausenden Ausgeschlossenen hin, die keinen Platz in dieser von finanzkapitalistischen Interessen geformten Arbeitsgesellschaft haben. Auch die Schrift des französischen Ökonomen Thomas Piketty kann als Anzeichen des Gezeitenwechsels gesehen werden. Piketty warnt vor der sich rasant öffnenden Schere zwischen armen und reichen Bevölkerungsgruppen in demokratischen Gesellschaften.
Ausgleich herstellen
Lösungscharakter für die Krise in der Arbeitswelt hätte es, so Hengsbach, wenn zumindest einige Punkte ins Gleichgewicht gebracht werden. So müsste eine neue Balance zwischen Finanz- und Realwirtschaft gefunden werden, sodass die dienende Funktion der Wirtschaft wiederhergestellt wird. Dringend notwendig ist auch, die Beteiligung von öffentlichen und privaten Haushalten anzugleichen, welche zum Beispiel durch eine progressive Besteuerung privater Vermögen und Erbschaften erreicht werden kann. Um ein Gleichgewicht zwischen Industriearbeit und Arbeit an/für Menschen zu erreichen, braucht es eine Umlenkung der Finanzmittel in den Dienstleistungssektor. Eine Ausgleichung der Verteilungsregelung der 4 Ressourcen ist dringend notwendig: Arbeits-, Natur-, Geld- und Gesellschaftsvermögen müssen gleiche Anteile vom Gewinn bekommen, dieser darf nicht, wie bisher, einzig zurück ins Geldvermögen fließen. Auch eine Gleichgewichtslage zwischen Männer- und Frauenarbeit wird ohne der entschiedenen männliche Beteiligung an der Veränderung des eigenen Rollenbildes nicht möglich sein. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist unabdingbar. Eine Balance zwischen Erwerbsarbeit und Arbeit jenseits der Erwerbsarbeit wird zu finden sein müssen. Die Flexibilisierung der individuellen Arbeitszeit führte zu weniger „Fest-Zeit“, wie Hengsbach sie nennt, sie führte zu einem Fehlen gemeinsamer Zeitkultur. Eine kollektive Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit mit gestaffeltem Lohnausgleich würde den Produktivitätszuwachs also nicht nur in mehr Einkommen, sondern auch in beziehungsintensive Festzeit verwandeln.
Eine Arbeitszeitverkürzung würde den zusätzlichen Konsumsog und Wachstumsschub durchkreuzen, die Wachstumsspirale ausbremsen und die Umweltzerstörung verlangsamen. Sie würde auch die soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Polarisierung in der Verteilung der Arbeits- und Lebenszeit verringern.
Hengsbach regt zum Nachdenken an: Für junge Eltern hatte zum Beispiel die deutsche Familienministerin Manuela Schwesig bereits ein innovatives Zeitregime entworfen, das die politische Klasse leider binnen einer halben Stunde zerfetzte. Würde es auf alle arbeitende Personen ausgeweitet, folgt daraus eine dreifache Saldierung:
- zwischen den Millionen Arbeitsuchenden und jenen Erwerbstätigen, die weit über die derzeit durchschnittliche Wochenarbeitszeit hinaus arbeiten
- zwischen dem jeweils ungleichen Anteil der Männer und Frauen an der Erwerbsarbeit beziehungsweise an der unentgeltlichen Kinderbetreuung und Altenpflege in der Privatsphäre
- zwischen den in einer Normalarbeitszeit Beschäftigten und den befristet, prekär oder in Teilzeit Beschäftigten.
Im rechnerischen Ergebnis könnten die Erwachsenen in Deutschland sich eine durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit von etwa dreißig Stunden pro Woche leisten. Konsumzeit würde in beziehungsintensive Zeit transformiert, der Zeitwohlstand würde steigen, die irrsinnige Messzahl des Bruttosozialprodukts könnte geschreddert werden.
Nach der anschließenden umfassenden Diskussion mit dem Publikum schloss Prof. Hengsbach den Abend mit seiner „Zuversicht, dass die Lernfähigkeit der Menschen, der Politiker nicht unendlich ist, aber auch nicht gegen Null tendiert“. Altbischof Maximilian Aichern, der dem Vortrag und der Diskussion gebannt folgte, meinte in seinen Abschlussworten, dass Papst Franziskus wohl sehr „happy“ gewesen wäre, wäre er an diesem Abend anwesend gewesen und beschrieb seine Hoffnung auf eine neue Offenheit der Kirche, die nötig ist, um das Evangelium neu zu verkünden.
Lydia Seemayer, Bischöfliche Arbeitslosenstiftung