Krise in der Wirtschaft
Und die, die noch Arbeit haben, freuen sich vielleicht, mal länger in einem Stück Urlaub zu haben, finanziell geht ja noch nichts ab. Aber der Druck wird größer, das gegenseitige Misstrauen innerhalb der Belegschaft, wer im Fall von Kündigungen als erster gehen muss. Einige Betriebe nutzen die Gelegenheit unter dem Vorzeichen der Wirtschaftskrise Personal zu kündigen, das sie ohnehin loswerden wollten. Jetzt fällt es nicht auf, das Gesicht bleibt gewahrt. Leute trauen sich weniger, ihre Rechte einzufordern oder sich über schlechte Arbeitsbedingungen zu beklagen oder gar aufzubegehren. Jene, die schon in der Armutsspirale sind, finden sich häufiger in Beratungsstellen ein. Gewalt in der Familie steigt, als Aggressionsabbau … Zudem die Verunsicherung jener, die gemäß der Empfehlung von Politik und Werbung begonnen haben „privat vorzusorgen“ und deren Ersparnisse nun oft 40 % weniger wert sind.
Es gibt verschiedene Arten mit Verunsicherung umzugehen. Eine läuft über Information und Gespräch. Dazu wollen wir als Bereich mensch & arbeit ermutigen und einladen.
Edeltraud Artner-Papelitzky
von Christian Felber zur 7. Sommerakademie von Attac Österreich (2008)
Was ist Neoliberalismus?
Neoliberalismus ist im Grunde eine „reinere“ Form des Kapitalismus oder der kapitalistischen Marktwirtschaft, nachdem diese unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und des darauf folgenden 2. Weltkrieges einige Jahrzehnte lang sozial „abgefedert“ wurde, in Europa in Gestalt der „sozialen Marktwirtschaft“ und in den USA in Form des „New Deal“.
Mit dem politischen Liberalismus hat Neoliberalismus wenig am Hut, in einem entscheidenden Aspekt können sie sogar als Gegenteile betrachtet werden. Der politische Liberalismus steht für den Vorrang politischer Freiheiten und der Grundrechte vor den reinen Wirtschaftsfreiheiten. Der Neoliberalismus kehrt dieses Verhältnis um: Die Wirtschaftsfreiheiten erhalten Vorrang vor allem anderen: „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s allen gut.“
Während im politischen Liberalismus der Staat den Markt einrichtet und reguliert, soll im Neoliberalismus der Markt die gesamte Gesellschaft regulieren und formen. Nicht „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ sind die Grundsätze des Neoliberalismus, sondern Konkurrenz und Besitzfreiheit.
Der große Buhmann des Neoliberalismus ist der Staat: Er würde dem Markt nur unnötig dreinpfuschen und solle sich „aus der Wirtschaft zurückziehen“: weniger Staat, mehr privat!
Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung – das ist die Politik des Neoliberalismus: Freier Kapitalverkehr, Freihandel, freies globales Investieren, Freiheit von demokratischer Regulierung.
Auf das Individuum gemünzt soll sich jede und jeder nur noch um sich selbst kümmern: „Eigenverantwortung!“ Gesamtgesellschaftliche und demokratische Verantwortung sind keine Tugenden im Neoliberalismus, allenfalls sollen die Menschen als KonsumentInnen und AnlegerInnen Verantwortung ausüben („kritischer Konsum“, „ethische Geldanlage“).
Margaret Thatcher erhob Vereinzelung zum Programm: „There is no such thing as society.“ (= Es gibt keine Gesellschaft; nur isolierte Schluckspechte und EllbogenkämpferInnen.)
Wie ist die Entstehungsgeschichte?
Als Vordenker des Neoliberalismus gilt der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek, der 1947 die „Mont-Pelerin-Society“ (MPS) gründete, um neoliberales Gedankengut weltweit zu verbreiten. Dieses Netzwerk schaffte es, dass 1968 der „Preis für Wirtschaftswissenschaften der Schwedischen Reichsbank in Gedenken an Alfred Nobel“ ins Leben gerufen wurde, welcher seither fälschlicherweise als „Wirtschaftsnobelpreis“ bezeichnet und zeitgleich mit den Nobelpreisen verliehen wird. Nicht weniger als acht Mitglieder der MPS erhielten in kurzer Abfolge diesen Preis, darunter einige von Hayeks Schülern an der Universität von Chicago, die so genannten „Chicago Boys“.
Der berühmteste „Boy“ war Milton Friedman, der in den 70er Jahren in der Diktatur von Augusto Pinochet neoliberale Experimente durchführen durfte und dafür als ökonomischer Popstar gefeiert wurde. In den 80er-Jahren setzten die USA („Reaganomics“) und Großbritannien („Thatcherism“) neoliberale Konzepte um. Seither breitet sich neoliberale Politik über den gesamten Erdball aus.
Welche Auswirkungen hat neoliberale Politik?
Steuerbegünstigungen für Reiche, Sozialabbau und Privatisierungen bewirken das Anwachsen von Ungleichheit und die Auflösung des sozialen Zusammenhalts. In den USA verdient heute der bestbezahlte Manager ein Jahreseinkommen von 3,7 Milliarden US-Dollar: das 290.000fache des gesetzlichen Mindestlohnes. Dieser Mindestlohn hat seit 1968 40% seiner Kaufkraft verloren. Mit der Armut steigt die Kriminalität in den USA sprunghaft an, die Zahl der Gefängnisinsassen explodierte von 500.000 im Jahr 1980 auf über zwei Millionen heute.
Die Macht der Reichen und der Konzerne ist so groß geworden, dass sie erfolgreich die Demokratie instrumentalisiert haben. Die Politik trifft die wichtigsten Entscheidungen zugunsten einer Minderheit. Das hat wiederum die Abwendung vieler Menschen von der Politik („Politikverdrossenheit“) und weit verbreitete Ohnmachtgefühle zur Folge.
Wer sind die Handelnden?
Hauptakteure sind die Regierungen in fast allen Ländern, die in den letzten 20 Jahren zunehmend neoliberale Programme umgesetzt haben. Gleichzeitig nützen sie internationale Organisationen und supra-staatliche Strukturen, um unpopuläre Reformen („Schocks“) an den Parlamenten und Bevölkerungen vorbei durchzusetzen. Neben der „unheiligen Triade“ Weltbank, Währungsfonds (IWF) und Welthandelsorganisation (WTO) funktioniert insbesondere in der EU dieses „Spiel über die Bande“ gut: Was zu Hause nicht mehrheitsfähig ist, machen wir über Brüssel und stellen es als „Sachzwang“ (der Globalisierung) dar. Weitere Player sind die OECD, die regelmäßig über das „großzügige“ Pensionssystem in Österreich meckert oder der Sachverständigenrat in Deutschland („Wirtschaftsweise“), in dessen Empfehlungen sich der Generalschwenk der Wirtschaftswissenschaft zum Neoliberalismus spiegelt. Schließlich finden sich zunehmend neoliberale Inhalte in den Programmen der großen Parteien: Vom „Sozialismus“ ist in den sozialdemokratischen Parteiprogrammen ebenso wenig übrig geblieben wie von der christlichen Soziallehre in der Politik der konservativen Parteien.
In dem Maße, in dem die breite Bevölkerung neoliberale Phrasen und Glaubenssätze übernimmt („Leistungsträger müssen belohnt werden“, „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“, „Wettbewerbsfähigkeit ist die Voraussetzung für unseren Wohlstand“), tragen wir alle zur Vormachtstellung des Neoliberalismus bei: Eine Mehrheit unterstützt, was einer Minderheit nützt.
Derzeit ist der Neoliberalismus (noch) das herrschende „Paradigma“: ein Werte- und Argumentationssystem, das die Hoheit im öffentlichen Diskurs besitzt. In dem Maße, in dem es die Wirklichkeit immer weniger erklären kann, wird es jedoch an Strahlkraft einbüßen und einem neuen Paradigma weichen.
Wer sind die KritikerInnen?
Der Streit um den wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Hauptstrom ist in den letzten 250 Jahren von einem Tauziehen zwischen marktliberaleren Ansätzen (der ursprüngliche Liberalismus; die Zeit vor dem Wall-Street-Krach (1929) und sozialeren Ansätzen (Marxismus, Kommunismus, soziale Marktwirtschaft, Globalisierungskritik) gekennzeichnet. Das Athener Parteiprogramm der CDU von 1947, das den Schwenk zur sozialen Marktwirtschaft brachte, wurde mit nur einer Stimme Mehrheit angenommen. Ähnlich graduell erfolgte der Übergang zum Neoliberalismus in den letzten 30 Jahren. Kritische ÖkonomInnen haben von Anfang an vor dieser Entwicklung gewarnt. Die linken Flügel der grünen und sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften kritisieren den Neoliberalismus ebenso wie die christlich-soziale Basis der Konservativen. Auch in UnternehmerInnenkreisen, insbesondere bei regionalen Betrieben, wächst die Unzufriedenheit mit der aktuellen Entwicklung der Wirtschaft. Schließlich engagiert sich eine wachsende Zahl besorgter und betroffener Menschen in sozialen Bewegungen wie Attac, die sich seit 2001 im Weltsozialforum und in kontinentalen Foren treffen. Nobelpreisträger wie Joseph Stiglitz verleihen der globalisierungskritischen Bewegung Prominenz und Glaubwürdigkeit.
Welche Alternativen werden diskutiert?
Die in Diskussion befindlichen Alternativen drehen sich vorwiegend um eine stärkere Rolle des Staates, der die Marktkräfte ausgleichen, steuern und stabilisieren soll. Menschenrechte, Verteilungsgerechtigkeit und Umweltschutz sollen Vorrang erhalten vor Wirtschaftsfreiheiten. Voraussetzung dieser geänderten Rolle des Staates – Politik für die Mehrheit – ist jedoch seine Demokratisierung. Die repräsentative Demokratie müsste korrigiert werden durch Elemente partizipativer und direkter Demokratie sowie durch die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bei der Europäischen Integration und der Bildung von Global-Governance-Strukturen (= „globale Regulierung ohne Weltregierung“).
Radikalere Ansätze zielen auf die Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft in Richtung „bedürfnisorientierter Versorgungswirtschaft“, „dezentraler Planwirtschaft“, Geschenkwirtschaft, Subsistenzwirtschaft oder allgemein „solidarischem Wirtschaften“, zum Teil ohne Geld und Staat.
Die wichtigste Voraussetzung für tief greifende Veränderungen ist das Engagement jeder und jedes Einzelnen. Von alleine werden die Herrschenden keine Macht abgeben und die Parteien ihre Programme nicht umschreiben. Demokratie und sozialer Fortschritt haben ihren Preis.