Her mit dem ganzen Leben!
Ich erlebe und sehe große Umbrüche in den Arbeitswelten und sehe auch die Klüfte, die sich gesellschaftlich auftun. Rechtspopulistische Regierungen und Parteien in Europa und weltweit spalten ArbeitnehmerInnen. Die Idee von „Leistungsgesellschaft“ ist und wird in den Köpfen vieler festgesetzt. Scheinbar steht es nur denen zu, das „ganze Leben“ zu fordern, die auch dementsprechend Leistung bringen. Gleichzeitig wird vielen Menschen über Entzug von Erwerbsarbeit der Zugang zur Gesellschaft verwehrt. Sie werden immer mehr ins Abseits gedrängt, schlecht und faul geredet und mundtot gemacht. Ein fahler Geschmack von individueller Ohnmacht macht sich breit, viele resignieren und sind damit beschäftigt eigene Existenzen zu sichern.
Wo bleibt die Solidarisierung von ArbeitnehmerInnen heute?
Wo wird laut und selbstbewusst die Forderung nach dem guten Leben für alle gestellt und konsequent verfolgt? Ich sehe es als die große Aufgabe der Kirchen, der christlichen Gemeinschaften, laut und deutlich ermutigende Geschichten vom „ganzen Leben“ weiter zu erzählen und somit die Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden. Papst Franziskus hält in Evangelii Gaudium fest, dass Evangelisieren bedeutet „die Botschaft vom Reich Gottes in der Welt gegenwärtig zu machen“ (EG 176). Das Evangelium ist für uns ChristInnen die Botschaft vom guten Leben, von der Hoffnung und vom Heilwirken Gottes. In Zeiten der Verunsicherung, in Zeiten von Umbrüchen wird es diesen Prozess der Vergegenwärtigung brauchen. Seelsorge in der Arbeitswelt kann dazu einen Beitrag leisten, davon bin ich überzeugt. Ich sehe es auch als große Aufgabe der Kirchen, Position zu beziehen, zu demonstrieren im Sinne von hinweisen bzw. deutlich machen, wo wir Brüche in unserer Gesellschaft wahrnehmen und wo Menschen „unter die Räder kommen“.
Hingehen und hinsehen
Betriebsseelsorge ist mit den Menschen in und am Rand der Arbeitswelt unterwegs. Sie ist besonders dort gefragt, wo Menschen unter Druck und in Not geraten. Eine gute Kenntnis der Lebens- und Arbeitssituationen der Menschen ist wesentlich für diese Arbeit. Betriebsseelsorge will solidarische, prophetische und missionarische Kirche sein. Hingehen und hinsehen, laut sagen was ist und ein- und auftreten für soziale Gerechtigkeit, handeln, Gemeinschaften bilden, miteinander unterwegs sein und feiern sind wichtige Grundhaltungen in den Berufsprofilen. In den regionalen Standorten der Betriebsseelsorge in Oberösterreich sehe ich immer wieder Pflänzchen in Sachen Solidarität wachsen, die vom kommenden Reich Gottes erzählen können. Ich wünsche den Menschen, die sich hier engagieren, viel Freude, Kraft, Mut und Geduld beim Säen, Pflanzen und Ernten eines guten, gelingenden (Arbeits)Lebens und freue mich, wenn aus vielen Ecken und von vielen unterschiedlichen Stimmen die Forderung nach dem "ganzen Leben" ertönt.
Michaela Pröstler-Zopf, Betriebsseelsorge OÖ